Montag, 1. Februar 2021

Vieldiskutierter Artikel zu „Night Science“: Den Gorilla vor lauter Hypothesen nicht sehen


In den vorgegebenen Daten versteckte sich das Bild eines Gorillas, den die Studierenden leicht erkennen konnten, wenn sie die Datensätze gegeneinander auftrugen. (Abbildung: HHU / Martin Lercher)


01.02.2021 – Bioinformatikprofessor Dr. Martin Lercher von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) und sein Kollege Prof. Dr. Itai Yanai von der New York University haben gemeinsam ein Experiment zur Kreativität in der Wissenschaft gemacht: Finden Studierende ein Gorillabild in einem Datensatz? Im vergangenen Jahr beschrieben sie in ‚Genome Biology‘, dass die Probanden deutlich seltener den Gorilla entdeckten, wenn sie die Daten mit vorgegebenen Hypothesen untersuchten. Laut Analyseplattform Altmetrics gehört dieser Artikel zu den Top-100 der meistdiskutierten wissenschaftlichen Arbeiten des Jahres 2020.


Vordergründig gaben die beiden Professoren HHU-Studierenden eine typische Aufgabe für Bioinformatiker: Sie sollten zwei Datensätze analysieren, die – getrennt nach männlichen und weiblichen Patienten – deren Body-Mass-Index (BMI) und deren tägliche Schrittzahl enthielten.


Die Studierenden waren in zwei Gruppen geteilt: Die eine wurde nur gefragt, was sie aus den Daten lernen können. Die andere Gruppe erhielt zusätzlich die Aufgabe, drei verschiedene Hypothesen zu prüfen; zum Beispiel, ob sich die Schrittzahlen von Frauen und Männern signifikant unterscheiden.


Was die Studierenden nicht wussten: Ihre Hochschullehrer hatten eine ganz andere Intention bei der Aufgabenstellung. Sie wollten sehen, wie sehr ein vorgegebener Analysepfad die wissenschaftliche Kreativität einschränkt.


Dazu hatten sie einen Datensatz erzeugt, der nichts mit der beschriebenen Thematik zu tun hatte. Vielmehr zeigte er das einfache Bild eines Gorillas, wenn man die jeweiligen Datenpaare in einem simplen zweidimensionalen Diagramm gegeneinander aufträgt. Dazu Prof. Lercher von der Arbeitsgruppe für Computergestützte Zellbiologie der HHU: „Eine solche einfache Visualisierung von Daten gehört zum Handwerkszeug beim Umgang mit Daten, das wurde bereits in den ersten Vorlesungen zur Datenauswertung gründlich behandelt.“


Tatsächlich fand aber ein großer Teil der Studierenden, die mit vorgegebenen Hypothesen an die Daten herangingen, den Gorilla nicht. Fünfmal so oft übersahen sie ihn im Vergleich zu ihren frei analysierenden Kommilitonen.


Übergeordnet ist diese Fragestellung unter die Begriffe ‚Day Science‘ und ‚Night Science‘ zu fassen, und in einer Artikelserie hierzu erschien auch das Paper in ‚Genome Biology‘. Die Konzentration auf ‚Day Science‘ unterscheidet die moderne Wissenschaft von der Naturphilosophie: Man überprüft Vermutungen durch geplante Experimente – hier werden keine Entdeckungen gemacht, sondern Hypothesen rigoros getestet. ‚Night Science‘ ist dagegen der unsystematische, der kreative Teil der Wissenschaft: Die Forschenden erfinden neue Fragen, Ideen und Hypothesen.


Prof. Yanai betont: „Wir möchten mit unserer Arbeit dazu anregen, dass mehr über die kreative Seite der Wissenschaft gesprochen wird. Unsere Analyse zeigt: Wer im ‚Day-Science-Modus‘ verhaftet ist, verpasst leicht spannende Entdeckungen.“


Damit waren die Autoren sehr erfolgreich: In der Analyse von rund 3,4 Millionen im Jahr 2020 erschienen Veröffentlichungen aus allen möglichen Fachbereichen gehört ihr Artikel „A hypothesis is a liability“ auf Platz 63 zu den 100 meist diskutierten. Im Bereich der ‚Information and Computing Sciences‘ steht es sogar auf Platz 5. Um auf diese Zahl zu kommen, hat die auf Bibliometrie spezialisierte Plattform Altmetrics alle auffindbaren Online-Nennungen zu den analysierten Artikeln gezählt, insgesamt waren fast 88 Millionen erfasst worden.


Hierzu zählen Nennungen unter anderem in Blogs und Social-Media-Plattformen wie Facebook und Twitter. Vor allem bei Twitter war das Paper erfolgreich, es wurde 2566-mal retweetet. Martin Lercher: „Wir waren selbst erstaunt, wie oft unser Artikel geteilt und kommentiert wurde. Das Ergebnis hat vielleicht einen wunden Punkt getroffen: dass wir Wissenschaftler uns mehr Raum für kreative Ideen lassen sollten.“


Originalpublikation

Itai Yanai & Martin Lercher, A hypothesis is a liability, Genome Biology 21, 2021

DOI: 10.1186/s13059-020-02133-w

Analyse von Altimetrics: https://www.altmetric.com/top100/2020/?details=89452823



Dr.rer.nat. Arne Claussen
Stabsstelle Presse und Kommunikation
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Universitätsstraße 1
40225 Düsseldorf
Tel.:   49 211 81-10896
Fax:   49 211 81-15279
arne.claussen@hhu.de

 

Die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) ist seit 1965 die Universität der Nordrhein-Westfälischen Landeshauptstadt. Die HHU begreift sich als Bürgeruniversität, die ihr Wissen kontinuierlich mit der Gesellschaft im Großraum Düsseldorf teilt. Ihre Verankerung in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft ist ebenso profilgebend wie ihre Ausrichtung als interdisziplinär agierende deutsche Volluniversität.

An ihrer Medizinischen, Mathematisch-Naturwissenschaftlichen, Philosophischen, Wirtschaftswissenschaftlichen und Juristischen Fakultät studieren rund 37.000 Studierende. Im Fokus der Forschung stehen traditionell die Lebenswissenschaften, ergänzt unter anderem durch Schwerpunkte wie Wettbewerbsforschung, Internet und Demokratie, Algebra und Geometrie sowie Sprache – Wissen – Kognition. 2018 wurde der seit 2012 bestehende HHU-Exzellenzcluster CEPLAS, der die künftige Welternährung durch Nutzpflanzen erforscht, im Rahmen der „Exzellenzstrategie“ von Bund und Ländern bestätigt.

Mehr zur HHU im Internet unter www.hhu.de.