Foto: Friedhelm Albrecht/Universität Tübingen |
Der
Linguist an der Universität Tübingen will mit der Projektförderung von rund 2,5
Millionen Euro die Sprachtheorie von der Bindung an Buchstaben lösen
Professor
Harald Baayen vom Seminar für Sprachwissenschaft der Universität Tübingen hat
einen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrats (European Research
Council, ERC) eingeworben. Sein Projekt WIDE (Wide Incremental
learning with Discrimination nEtworks), wird in den kommenden
fünf Jahren mit rund 2,5 Millionen Euro gefördert. In dem Projekt WIDE will
Baayen einen tieferen Einblick gewinnen, wie wir in der Alltagssprache Wörter
bilden und verstehen.
Wörter
können sich in alltäglichen Unterhaltungen deutlich von der geschriebenen Form
unterscheiden: Im Deutschen wird „würden“ häufig als „wün“ ausgesprochen, im
Niederländischen „natuurlijk“ (‚natürlich‘) zu „tk“ reduziert, und im
chinesischen Mandarin wird 要不然
(jao pu zan, ‚andererseits‘) zu „ui“. Gängigen Theorien zufolge werden die
Klangwellen, die unsere Ohren erreichen, zu Abfolgen abstrakter Lauteinheiten
reduziert – ähnlich wie die Aneinanderreihung von Buchstaben, die geschriebene
Wörter ergeben, berichtet Harald Baayen. Um die Bedeutung einer Äußerung zu
erfassen, müssten die stark reduzierten Formen wie „wün“, „tk“ und „ui“ den
entsprechenden ungekürzten Formen zugeordnet werden. Wie das als
Rechenanleitung im Computer gelingen soll, ist ein bisher ungelöstes Problem.
Seinem
Projekt WIDE legt Baayen den radikalen Vorschlag zugrunde, die
buchstabenähnlichen Lauteinheiten ganz beiseite zu lassen und sich stattdessen
auf die vielfältigen Details des Sprachsignals selbst zu konzentrieren.
Ausgehend von den zehntausenden veränderlichen Merkmalen eines Sprachsignals
will der Linguist künstliche neurale Netzwerke durch Versuch und Irrtum lernen
lassen, welche Bedeutungen jeweils gemeint sind. In früheren
Forschungsarbeiten, die von der Alexander von Humboldt-Stiftung gefördert
wurden, konnte er bereits belegen, dass seine Vorgehensweise grundsätzlich
Erfolge zeitigt. Im WIDE-Projekt soll dieser Ansatz weiterentwickelt und über
das Deutsche hinaus auf andere Sprachen ausgedehnt werden, darunter die tonale
Sprache Mandarin und Estnisch, eine komplexe Sprache mit 28 bis 40
verschiedenen Formen eines Substantivs. Im WIDE-Projekt will Baayen auch ein
Computermodell zur Formung von Wörtern in der gesprochenen Sprache ohne den
Einsatz von buchstabenähnlichen Lauteinheiten entwickeln.
Der
Projektname „WIDE“ hebt einen zweiten Aspekt hervor, in dem das Projekt eine
radikale Abkehr von gängigen Ansätzen in der Linguistik und bei der Erforschung
der Verarbeitung natürlicher Sprache vornimmt: Statt tiefe vielschichtige
lernende Netzwerke zu verwenden, konzentriert sich Baayen auf das Potenzial
‚weiter‘, ausgedehnter, aber nur zweischichtiger Netzwerke mit Zehntausenden
von Ein- und Ausgangseinheiten.
Rolf
Harald Baayen, 1958 in den USA geboren, kam 2011 als Alexander von
Humboldt-Professor an die Universität Tübingen. Er hat den damals zusätzlich
geschaffenen Lehrstuhl für Quantitative Linguistik am Seminar für
Sprachwissenschaft der Philosophischen Fakultät inne. Baayen forschte zuvor am
Department of Linguistics der University of Alberta, Edmonton, in Kanada. Er gilt
als einer der international besten und innovativsten Forscher auf dem Gebiet
der Wortschatzforschung und der quantitativen Linguistik. Er ist einer der
Pioniere der computergestützten und empirischen Sprachforschung und
Psycholinguistik und hat grundlegende Beiträge etwa zum Verständnis der
menschlichen Sprachfähigkeit und zur Rolle des Gedächtnisses bei der
Sprachverarbeitung geleistet.
Mit
dem Advanced Grant unterstützt der Europäische Forschungsrat etablierte, aktive
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit einer herausragenden
wissenschaftlichen Leistungsbilanz. Jedes Projekt eines Advanced Grants, der in
allen Wissenschaftsbereichen vergeben werden kann, wird mit bis zu 2,5
Millionen Euro über maximal fünf Jahre finanziert.
Kontakt:
Prof.
Dr. Harald Baayen
Universität
Tübingen
Philosophische
Fakultät
Seminar
für Sprachwissenschaft
Telefon
+49 7071 29-73117
harald.baayen[at]uni-tuebingen.de
Eberhard Karls Universität Tübingen
Hochschulkommunikation
Wilhelmstraße 5 · 72074 Tübingen · Germany
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