Kritik an Politikern
Klimawandel, die atomare Bedrohung, Energiekrise, knappe Nahrungsmittel: Deutschland und die Welt steuern auf gewaltige Probleme zu. Doch im Wahlkampf ignorierten die Parteien die brisanten Themen, klagen Forscher - und warnen vor gravierenden Folgen für das Land.
Es war offenbar ein frommer Wunsch, den das Magazin "Zeit Wissen" Ende Juli formulierte. Im TV-Duell zwischen Kanzlerin Angela Merkel und ihrem Herausforderer Frank-Walter Steinmeier möge statt der "K-Frage" doch bitteschön die "W-Frage" im Mittelpunkt stehen: "Es ist höchste Zeit für ein Wissenschaftsduell!" Statt politischer Standardkost sollten die wirklich wichtigen Themen auf den Tisch.
Geschehen ist: nichts. Das Wort "Klimawandel" fiel in der TV-Debatte kein einziges Mal. Rund eine Stunde dauerte es, bis Merkel "Forschung" und "Bildung" erstmals beiläufig erwähnte. In ihrem Schlusswort tauchten die Begriffe ein weiteres Mal auf, Steinmeier sparte sie gänzlich aus. Zugegeben: Es ist schwierig, auf Fragen zu antworten, die niemand stellt. Die Duell-Moderatoren wollten offenbar nichts hören vom Kampf gegen den Klimawandel, der Zukunft der Genforschung, der Verbreitung von Atomwaffen und der Innovationskraft Deutschlands - sondern lieber wissen, ob Merkel und Steinmeier die Preispolitik der Berliner Friseursalons kennen.
Wissenschaftler betrachten das mit Sorge: Bleibt die öffentliche Debatte über Forschung, Innovationen und Technologien aus, "drohen schwere Fehlentscheidungen, die unsere Wettbewerbsfähigkeit und unsere Sicherheit gefährden könnten", warnt etwa Hans-Jörg Bullinger, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft.
Die Bedeutung von Forschung und Technik steigt
Denn in den vergangenen Jahrhunderten hat die Wissenschaft den Lauf der Geschichte mindestens ebenso stark geprägt wie die Politik: Chemie und Physik haben Waffen von unvorstellbarer Vernichtungskraft ermöglicht, Astronomie und Biologie den Menschen aus dem Mittelpunkt der Schöpfung geworfen, die industrielle Revolution hat nie dagewesenen Wohlstand geschaffen und den Klimawandel eingeleitet, die Agrarwissenschaft die Ernteerträge vervielfacht und die Weltbevölkerung rasant ansteigen lassen. Dank der Genforschung könnten die Menschen ihre weitere biologische Entwicklung demnächst selbst in die Hand nehmen.
Und es gibt keinen Grund für die Annahme, dass Forschung und Technik künftig an Bedeutung verlieren. Die Verbreitung von Atomtechnologie, der Klimawandel und seine sicherheitspolitischen Folgen, das bevorstehende Ende des Ölzeitalters, die knapper werdenden Ressourcen des Planeten: Es gibt kaum ein großes Thema, in dem die Wissenschaften keine entscheidende Rolle spielen - oder gar über den Fortbestand der Zivilisation in ihrer heutigen Form entscheiden.
McCains Problem mit Fruchtfliegen und Grizzlybären
Das alles kam im Bundestagswahlkampf so gut wie gar nicht vor. "Alle Politiker sagen irgendwie, Forschung und Bildung seien wichtig", beklagt Fraunhofer-Präsident Bullinger. "Aber im Wahlkampf war das kein Thema." Ähnlich sieht das Hans Joachim Schellnhuber, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und einer der Top-Umweltberater der Bundesregierung: "Jeder spricht von Innovationen, aber die müssen auch irgendwo herkommen. Diese Verbindung wird oft nicht gezogen."
Ganz anders in den USA: Im Präsidentschaftswahlkampf 2008 waren Forschungsthemen im Wahlkampf prominent vertreten - wenn auch aus Gründen, die für Forscher wenig erfreulich waren. Acht Jahre lang hatten US-Präsident George W. Bush und seine Republikaner Wissenschaftler gegängelt, ihre Erkenntnisse missachtet oder gar manipuliert.
Das Ergebnis war ein Klima, in dem die republikanischen Wahlkämpfer John McCain und Sarah Palin punkten wollten, indem sie die Forschung an Fruchtfliegen und Grizzlybären lächerlich machten oder von "sauberer Kohle" redeten - als sei eine Technologie vorhanden, deren Marktreife in Wirklichkeit noch Jahrzehnte in der Zukunft liegt.
Auf diese Weise politisches Kapital zu schlagen, ist meist nur möglich, wenn es der Wähler nicht besser weiß. Was passieren kann, wenn der Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft nicht mehr richtig funktioniert, wissen Forscher in den USA nur zu gut. Nachdem die nukleare Vernichtung Hiroshimas und Nagasakis den Zweiten Weltkrieg beendet hatte, galten Wissenschaftler in den USA als Helden und genossen im politischen Establishment enormen Einfluss. Der Schock, den der Start des russischen Sputnik-Satelliten 1957 verursachte, und die erfolgreiche Mondlandung zwölf Jahre später verhalfen den Forschern ebenfalls zu Geld und Prestige.
"Wisschenschafts-Analphabetismus" und "Ordinarien-Arroganz": Warum Forscher und Volk einander nicht verstehen
Danach aber ging der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik zurück - bis hin zu dem Tiefpunkt während der Amtszeit von George W. Bush, was unter anderem dazu führte, dass die USA im Kampf gegen den Klimawandel um Jahre zurückfielen.
In den Vereinigten Staaten wird, wie auch in Deutschland nach dem Pisa-Schock, gern der "wissenschaftliche Analphabetismus" für die Sprachlosigkeit zwischen Wissenschaft und Gesellschaft verantwortlich gemacht. Das aber dürfte der falsche Ansatz sein, argumentieren die US-Journalisten Chris Mooney und Sheril Kirshenbaum in ihrem jüngsten Buch "Unscientific America": Zum einen sei es illusorisch, zu glauben, man könne einen bedeutenden Teil der Bevölkerung per Schulunterricht in die Lage versetzen, wissenschaftlichen Debatten im Detail zu folgen. Selbst Fachleute müssten gehöriges Wissen ins Feld führen, um etwa die Argumente von Klimawandel-Skeptikern zu entkräften.
Nicht jeder kann Klimaforscher sein
Zum anderen sei solches Detailwissen in der breiten Bevölkerung auch gar nicht notwendig. Wichtig sei vielmehr, dass die Gesellschaft versteht, wie wichtig Forschung ist. Die Wissenschaft müsse "einen viel höheren Stellenwert in Politik und Medien besitzen, eine wesentlich größere Relevanz im täglichen Leben einnehmen" und "die Agenda für die Zukunft bestimmen, so weit wir sie absehen können", schreiben Mooney und Kirshenbaum.
Klimaforscher Schellnhuber sieht durchaus "die Chance einer Renaissance der Forschung in der öffentlichen Kultur Deutschlands". "Das Interesse an Wissenschaft ist in der Öffentlichkeit prinzipiell vorhanden", sagte Schellnhuber im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. "Das müssen wir nutzen." Die Aufgeschlossenheit gegenüber der Wissenschaft sei derzeit größer als in den vergangenen 20 Jahren. "Als Physiker und Mathematiker wurde ich früher fast schon als Zombie angesehen", so Schellnhuber. "Das hat sich glücklicherweise geändert." Auch bei Politikern bestehe generell die Bereitschaft, Ratschlägen aus der Wissenschaft zu folgen - "aber nur, wenn die Öffentlichkeit das fordert".
"Ordinarien-Arroganz noch nicht überwunden"
Die aber werde zu wenig über wissenschaftliche Zusammenhänge informiert. Die Verantwortung dafür sieht Schellnhuber sowohl bei Nachrichtenmedien, die wissenschaftliche Themen in ihrer täglichen Berichterstattung weitgehend ausblenden, als auch bei der Forschergemeinde. "Manche Wissenschaftler bedenken nicht, dass sie mit öffentlichen Geldern finanziert werden und der Öffentlichkeit Informationen über ihre Arbeit schuldig sind", sagt Schellnhuber. "Die Ordinarien-Arroganz der Nachkriegszeit ist in Deutschland leider immer noch nicht ganz überwunden."
Fraunhofer-Präsident Bullinger pflichtet bei: Der Dialog mit der Öffentlichkeit sei eine Aufgabe für "das breite Feld" der Wissenschaftler, nicht nur für die Top-Funktionäre. "Und dieser Diskurs kann nicht entlang unserer Wissenschaftssystematiken stattfinden." Im Zweifel müssten Forscher den Mut finden, mit ihren Erkenntnissen auch dann an die Öffentlichkeit zu gehen, wenn sie noch nicht den allerletzten Zweifel ausgeräumt hätten.
Zwar sei die Entwicklung der Forschungsfinanzierung in Deutschland derzeit durchaus positiv, doch Gefahr drohe durch die Wirtschaftskrise. "Es scheint derzeit noch offen, ob die Überschuldung der Haushalte dazu führen wird, dass Wissenschaft wieder als Luxus angesehen wird", sagt Schellnhuber. Ähnlich äußerte sich Peter Gruss, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Die Politik sei zur Ausgabe von Milliardenbeträgen bereit gewesen, weil gefährdete Banken als "systemrelevant" erkannt worden seien. "Was aber kann in einem rohstoffarmen und hoch entwickelten Staat wir Deutschland systemrelevanter sein als eine solide Basis für Forschung und Bildung?"
Von Markus Becker
URL:http://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/0,1518,651126,00.html